Rhythmus - Fühlen oder Notenlesen?
Ein Thema mit vielen irrtümlichen Glaubenssätzen
Häufig höre ich eine der folgenden Aussagen von Menschen, die zu mir in den Instrumentalunterricht kommen:
"Ich kann nicht zählen" oder "Ich habe Probleme mit dem Takt" oder "Ich habe Probleme mit dem Rhythmus"
Und gemeint sein können hier ganz unterschiedliche Schwierigkeiten, die es dann gilt, heraus zu kristallisieren.
These 1: Ich kann nicht zählen
Diese These lässt sich schnell widerlegen, denn die meisten Menschen können bereits sehr früh in ihrem Leben bis 10 zählen!
Was sich hinter diesem Satz verbirgt, ist viel mehr meistens die Schwierigkeit, einen regelmäßigen Pulsschlag (Fachwort Metrum) körperlich zu empfinden, während gleichzeitig am Instrument oder in der Singstimme eine zeitlich anders gegliederte Abfolge von Tönen erzeugt werden soll, die zwar mit dem Pulsschlag (Metrum) korelliert aber dennoch eigenständig und andersartig ist.
These 2: Ich habe Probleme mit dem Takt
Um diese These zu widerlegen, bedarf es zunächst einer Begriffsklärung:
Was ist eigentlich "Takt"?
In der Musik ist Takt die regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Pulsschlägen. So betont man im 2/4 Takt jeweils den ersten Puslschlag, der zweite Pulsschlag bleibt unbetont. (siehe hierzu auch das >>Video "Probleme mit dem Takt?")
Tatsächlich fällt es den wenigsten Menschen schwer, solche Betonungen zu erfassen, wie man am Mitklatschen bei Schlagerveranstaltungen und leider auch beim militärischen Marschieren u.Ä. sofort erkennen kann.
Taktempfinden liegt uns buchstäblich im Blut, denn unser Herz schlägt mit einem betonten, aktiven und einem unbetonten, passiven Anteil.
Auch mit dieser These ist in der Regel die Schwierigkeit von gleichzeitigem, regelmäßigem Pulsschlagempfinden und zeitlich anders unterteilten Tonfolgen gemeint.
Manchmal fällt es aber auch schwer, beim Improvisieren innerhalb einer bestimmten Taktart zu bleiben. Das wäre dann tatsächlich ein "Problem mit dem Takt"
These 3: Ich habe Probleme mit dem Rhythmus
Um diese These zu überprüfen, braucht es wieder zunächst eine Begriffsklärung:
Was ist eigentlich Rhythmus?
In der Musik bezeichnet man die Abfolge von Tönen oder Klängen in einer geregelten zeitlichen Abfolge als Rhythmus. Es geht bei Rhythmus um die Dauer von aufeinander folgenden Tönen oder Klängen, oft - wenn auch nicht immer - in Korellation zu einem regelmäßigen, zugrunde liegenden Pulsschlag (Metrum).
Den meisten Menschen fällt es nicht schwer, einfache Rhythmen nach Gehör zu reproduzieren (finde heraus, ob Du es kannst im Video >> "Probleme mit dem Takt?).
In der Regel drückt diese These die Schwierigkeit aus, rhytmische Abläufe aus dem Notenbild in einen hör- und spürbaren Ablauf zu übersetzen. Denn sobald der Rhythmus als Hörvorlage angeboten wird, können die meisten Menschen ihn sehr schnell aufnehmen und wiedergeben.
Rhythmus-Arbeit = Präzisionsarbeit
Warum ist rhythmische Präzision im musikalischen Kontext essentiell?
Spätestens wenn mehrere Menschen miteinander musizieren, führt an einem gemeinsamen Pulsschlagempfinden kein Weg vorbei, wenn man nicht im beliebigen Chaos verweilen möchte (was phasenweise auch sehr reizvoll sein kann).
Nur wenn unser musikalisches Tun präzise an diesen Pulsschlag angepasst ist, entseht ein Gefühl von "einrasten" und echtem "Zusammenkommen", von "Im-Fluss-Sein". Glückshormone werden ausgeschüttet, und ein Zustand tiefer Zufriedenheit oder ekstatischer Energetisierung kann sich einstellen.
Fehlt diese Präzision, bricht führer oder später die musikalische Gesamtstruktur auseinander und die Beziehungen der miteinander Musizierenden oder auch die zwischen spielenden und zuhörenden Personen ist nicht mehr im Fluss. Natürlich bleiben immer noch Harmonie und Melodie als ebenfalls beglückende Aspekte der Musik übrig, aber EIN Element kommt dann eben nicht zur vollen Wirksamkeit.
Eine musizierende Gruppe oder eine erfahrene Einzelperson kann einzelne rhythmisch unsichere Personen oft stabilisieren.
Ich habe aber auch schon erlebt, dass eine einzige Person in der Lage sein kann, eine gesamte Gruppe zum Auseinanderfallen zu bringen.
Letztlich ist es kein Weltuntergang, wenn mal eine musikalische Gruppe auseinander bricht oder nicht super-exakt zusammen spielt. Dennoch möchte ich dazu ermutigen, sich der rhythmischen Präzisions-Arbeit genau so regelmäßig zu widmen, wie der Zahnpflege, denn es handelt sich hier um ein körperliches Lernen, das wie alle körperlichen Bewegungsabläufe durch regelmäig wiederholendes Training geschult werden kann.
Rhythmus hören - Rhythmus fühlen - Rhythmus spielen - Rhythmus lesen
Ich verfolge im Instrumentalunterricht gerne die Strategie, Rhythmus zunächst intuitiv über das Ohr aufzunehmen, ihn dann körperlich zu spüren, spielerisch auf die Singstimme oder das Instrument zu übertragen, bevor ich dann das bereits intuitiv gefühlte und erfahrene gleichzeitige Geschehen von Pulsschlag und gespieltem Rhythmus in die kognitive Notenschrift übersetze.
Manchmal fällt es aber Menschen leichter, vom verstandesgeprägten Schriftblid ausgehend nach und nach ins hörende und körperliche Erleben zu gehen.
Beide Wege sind möglich, ich empfehle. sie beide auszuprobieren, egal welche Geschichte Du Dir über Deine persönlich favorisierte Herangehesweise erzählst.
Warum die Reihenfolge hören, fühlen, spielen, lesen?
Musik ist ähnlich wie Sprache eine Ausdrucksform, die der Mensch in der Regel sehr früh im Leben kennen lernt und zunächst intuitiv erfasst. Der kognitive Teil kommt erst später hinzu.
Niemand käme auf die Idee, einem Kind zunächst das Lesen beizubringen, bevor es Sprache hörend versteht oder durch Bewegung der Zunge und Stimmbänder selber spricht. In der Musikerziehung wird der kognitive Top-Down-Weg (vom Kopf in den Körper) leider häufig immer noch hartnäckig gewählt.
Dabei funktioniert gerade im Hinblick auf Rhythmus der intuitive Weg auch bei vorhandenen kognitiven Fähigkeiten oft unmittelbarer und führt zu motivierenderen Erfolgserlebnissen.
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Wer sein Rhythmusgefühl auf ganzheitliche Weise entwickeln möchte, findet in der von mir hoch geschätzten TaKeTiNa-Methode von Reinhard Flatischler einen bemerkenswerten Praxisansatz, der auf die intuitive Lernfähigkeit unseres Nervensystems setzt und vollständig ohne Notenschrift nur über das Tun zu den erstaunlichsten polyrhythmischen Tätigkeiten befähigt, die man dann auch auf das eigene Instrumentalspiel übertragen kann.
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